Der Begriff Juche (주체) wurde das erste Mal am 28. Dezember 1955 von Kim Il Sung in seiner Rede vor Mitarbeitern der Parteipropaganda- und Agitation »Über die Beseitigung des Dogmatismus und des Formalismus sowie über die Herstellung des Juche in der ideologischen Arbeit« in einem offiziellen Kontext verwendet, als man in der Sowjetunion dazu überging, das Erbe Stalins zu verweigern und den Marxismus-Leninismus grundsätzlich reformieren zu wollen. Darin kritisiert Kim Il Sung eine fehlende »Juche-Haltung« an der eigenen ideologischen Arbeit – man solle „tief in die Fragen eindringen“, „schöpferisch arbeiten“, nicht „das Fremde kopieren und auswendig lernen.“1 Der Begriff selbst, der etwa »Sich auf die eigenen Kräfte verlassen«, »Selbstständigkeit« oder, in seiner ursprünglichsten Bedeutung, »Subjekt« bedeutet, definiert sich im Kontrast zu Abhängigkeit bzw. »Kriecherei vor dem Großen« (사대, Sadae).
Auch wenn sich bereits zwei bis drei Jahrzehnte zuvor während der Anti-Japanischen Befreiungskämpfe in den Köpfen der damaligen Revolutionäre, inkl. Kim Il Sung, einige Vorläuferkomponenten der Juche-Idee zu formen begannen, wurden diese verstreuten Ideen erst beginnend mit dieser Rede zu einem zentralen Prinzip ausgearbeitet. Die Juche-Idee entwickelte sich direkt aus dem Marxismus-Leninismus, den Erfahrungen seiner Anwendung in der koreanischen Revolution, kritisiert dessen mangelnde subjektive bzw. übermäßig objektive Ansicht der sozialistischen Revolution und erweitert ihn um eine akkurate subjektive Komponente. Ein tieferes Verständnis der Juche-Idee ist von einem tieferen Verständnis des Marxismus-Leninismus abhängig.
Das Herz der Juche-Idee ist also eine kreative Selbstständigkeit.
Die Juche-Idee lässt sich zum Zwecke der Analyse in drei zu untersuchende Kategorien2 teilen:
(a). Philosophie;
(b). Gesellschaftsgeschichte;
(c). Praxis.
In der Frage der Philosophie wird die philosophische Grundlage der Juche-Idee deutlich, im Zentrum jener der Mensch steht. Es handelt sich um einen epistemischen Humanismus bzw. einen Anthropozentrismus.
In der Frage der Gesellschaftsgeschichte zeigt sich die Juche-Ansicht auf den marxistischen historischen Materialismus.
In der Frage der Praxis kommt die konkrete Realität der Juche-Idee zur Geltung, wie sie in der Demokratischen Volksrepublik Korea Anwendung findet.
Im philosophischen Zentrum der Juche-Idee steht der Mensch, „der Herr über alle Dinge ist und alles entscheidet.“3 Damit ist gemeint, dass dem Menschen die wichtigste Rolle bei der Gestaltung seiner Umwelt und seines Schicksals zukommt – es „steht im völligen Gegensatz zum Idealismus und zur Metaphysik.“4 Die Juche-Idee baut hierbei auf den marxistischen Materialismus auf und erweitert diesen um die Erkenntnis, dass der Mensch „das höchste Produkt der entwickelten Materie“5 darstellt, dem eine besondere Stellung in der Welt zuteilwird. Sowohl Wissen über die dem Menschen innewohnenden, essenziellen Charakteristiken wie auch die essenziellen Charakteristiken der materiellen Welt sind notwendig, um das menschliche Schicksal in die eigenen Hände nehmen zu können.6 Nur das Eine oder das Andere ist nicht ausreichend. Während die essenziellen Charakteristiken der objektiven Welt durch die bisherige materialistische Dialektik hinreichend erklärt werden können, erkennt die Juche-Idee drei essenzielle Charakteristiken des Menschen als Subjekt: Unabhängigkeit, Kreativität und Bewusstsein.
»Der Mensch ist natürlich auch ein materielles Wesen, aber nicht ein einfaches, sondern das höchst entwickelte, ein besonderes Produkt der Entwicklung der materiellen Welt. Als sich der Mensch aus dem Tierreich löste, trat er bereits als besonderes Wesen auf. Während alle andere lebende Materie zur objektiven Welt gehört, sich ihr anpasst und so ihre Existenz erhält, lebt und entwickelt sich der Mensch, indem er die Welt erkennt, verändert und sie sich dienstbar macht.«7
Die fundamentale Aufgabe der Philosophie ist es, die Stellung des Menschen in der Welt klarzustellen. Um also dieser Aufgabe als Weltanschauung auch entsprechend nachkommen zu können, so argumentiert Kim Jong Il, muss die materialistische Dialektik nicht nur die objektiven Gegebenheiten der Welt als konstantem Wandel unterlegen erkennen, sondern sie muss auch die subjektive Rolle des Menschen darin betonen und beleuchten.8
Die Juche-Idee revolutioniert also die materialistische Dialektik dahingehend, dass sie die subjektive Rolle des Menschen betont, dass mit ihr der Mensch nicht mehr das Objekt der objektiven Gegebenheiten ist, sondern ihr Subjekt, womit die wichtigste Frage der Natur des Menschen und seiner Stellung in der Welt beantwortet wird.
(사람중심철학, Saramjungsimcheolhag)
Im Zuge des „Anti-Stalinismus“ unter Chruschtschow sowie der Deng-Reformen in China wurde der Marxismus-Leninismus grundlegend uminterpretiert, seine objektiven Inhalte wurden auf die zentrale Stelle gerückt, während die subjektiven Inhalte verkamen. Das entscheidende Moment der sozialistischen Transformation waren nunmehr nicht die werktätigen Massen und die Entwicklung der Produktionsverhältnisse selbst, sondern die Entwicklung der mit ihr dialektisch verbundenen Produktivkräfte. Man wollte sich, sozusagen, „in den Kommunismus wirtschaften“ – Kommunismus bedeute sogleich nicht viel mehr als „materieller Reichtum für jedermann,“ denn, wenn sich jeder grenzenlosen Reichtums erfreuen könne, müssten klassenlose Verhältnisse logisch von alleine folgen.
Geendet haben diese Reformen aber nur in der Restauration des Kapitalismus, der Restauration kapitalistischer Produktionsverhältnisse und mit der Aufgabe des Sozialismus.
Gegen diese Entwicklung wurde vielerorts lautstark protestiert und die Cliquen um Chruschtschow und Deng, die diese Reformen implementierten und trugen, wurden als Revisionisten kritisiert. Unter den lautstark Protestierenden waren unter anderem auch die koreanischen Kommunisten.
Den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, die revolutionären Massen als das unabhängige, kreative und bewusste Subjekt der Revolution zu begreifen, nicht die ökonomische Basis, war die Lehre dieser Zeit. Der Anthropozentrismus der Juche-Idee entwickelte sich also mitunter als eine Reaktion auf den sowjetischen und später chinesischen Revisionismus, der sich, laut Kim Jong Il, besonders dadurch entwickeln konnte, weil dem dialektischen Materialismus die subjektive Komponente fehlte. Man kennt auch heute noch Marxens berühmtes Zitat, dass es die objektiven Umstände sind, die des Menschen Bewusstsein formen – dies mag in den Zeiten gegolten haben, in denen die Menschen ihrer essenziellen Qualitäten noch nicht bewusst waren, aber sobald sie es sind – und das ist ein Kernumstand der sozialistischen Revolution – müssen die revolutionären Massen die Zügel ihres Schicksals selbst in die Hand nehmen und ihr Bewusstsein auf dem Weg in eine kommunistische Gesellschaft gestalten.
Wie bereits erwähnt, besitzt der Mensch zufolge der Juche-Idee drei essenzielle Charakteristiken:
(a) Unabhängigkeit (자주성, Jajuseong);
(b) Kreativität (창조성, Changjoseong);
(c) Bewusstsein (의식성, Uisigseong).
Diese drei Charakteristiken erhält der Mensch durch seine besondere physische bzw. biologische Natur, die er im Zuge der Evolution entwickelt hatte. Sie sind das Resultat eines qualitativen Sprungs auf Basis einer quantitativen Veränderung der ihr zugrundeliegenden Materie, des Körpers.
Die Qualität der Unabhängigkeit beschreibt beim Menschen seine starke Opposition nach Unterordnung und Unterdrückung. Tiere und andere nichtmenschliche Lebewesen sind Teil des objektiven, organischen Ganzen – sie wirken nicht oder nur in minimalem Maße so auf ihre Umwelt ein, dass sie sie verstehen, kontrollieren und beherrschen könnten. Der Mensch, andererseits, versteht, kontrolliert und beherrscht seine Umgebung. Er kann durch sein Verständnis der Natur die Destruktivität der Natur eingrenzen und ihre kreativen Kräfte für sich nutzen, um sich langfristig ein besseres Leben zu sichern. Die menschliche Natur als nach eigener Unabhängigkeit strebend wird dementsprechend auch als die Triebkraft hinter Klassenkämpfen und anderen sich daraus ergebenden Widersprüchen verstanden. In der Juche-Idee ist die Unabhängigkeit als Bedingung zu verstehen, die die Auslebung dieser menschlichen Natur überhaupt erst ermöglicht.
Anders als die Instinkte der Tiere besitzen Menschen ein Bewusstsein mit dem die Umgebung, wie bereits erwähnt, verstanden werden kann. Das Charakteristikum Kreativität beschreibt in diesem Zusammenhang die Kraft hinter der Verwendung dieses Bewusstseins, um die Umgebung konkret zu verändern, um aus Altem Neues zu schaffen. Der Mensch kann mithilfe seiner Kreativität Objekte in ihrer Form verändern, Objekte zusammenfügen oder Objekte in neue Objekte teilen, so wie es ihm beliebt.
Menschen agieren auf Basis ihrer bewussten Interessen, setzen sich Ziele und machen Pläne, während andere Lebewesen grundsätzlich nach ihren limitierten Instinkten leben. Das Bewusstsein ist jene Kraft, die mithilfe der Kreativität und bei vorhandener Unabhängigkeit ihre Umgebung aktiv erkennen und gestalten kann.
Die Fragen der Gesellschaftsgeschichte können auch als Juche-Variante des historischen Materialismus betrachtet werden. Es werden die historischen Klassenkämpfe und die Entwicklung des Menschen im Allgemeinen aus einer Juche-Perspektive beleuchtet.
»Die Volksmassen sind die Herren der Revolution und des Aufbaus, sind entscheidender Faktor für die Umgestaltung der Natur und für die Entwicklung der Gesellschaft.«9
Die Juche-Idee betrachtet stets die Volksmassen als das Subjekt ihrer eigenen Befreiung. Alle historischen sozialen Bewegungen und Revolutionen, die auf die Befreiung des Menschen ausgerichtet waren, waren demnach Kämpfe zur Herstellung der eigenen Souveränität. In früheren Tagen waren die Massen aber nicht imstande, ihre eigene subjektive Rolle wahrzunehmen und ihr Schicksal dementsprechend zu formen. Erst in der sozialistischen Gesellschaft, in der sie durch ihren Staat erstmals die Produktionsmittel kontrollieren können – und damit die Werkzeuge ihres eigenen Schaffens – können sie auch wirklich subjektive Macht ausüben und die revolutionären Veränderungen gestalten.
Zufolge der Juche-Idee war die bisherige menschliche Geschichte ein ständiger „Kampf der Volksmassen für die Verfechtung und Durchsetzung der Souveränität.“10 Es erweitert also die klassisch marxistische Sichtweise einer Geschichte von Klassenkämpfen um den Souveränitätsaspekt. Anders als der frühe Marxismus versteht die Juche-Idee die bisherige menschliche Geschichte nicht als in notwendige Gesellschaftsetappen aufgeteilt, welche die menschliche Gesellschaft durchlaufen müsse, um eine „höhere“ Etappe zu erreichen. Die Notwendigkeit zur Erreichung der menschlichen Souveränität sieht sie in der „Rolle des Herren“ der Volksmassen, die sie nur in einer sozialistischen Gesellschaft, in der sie die Produktionsmittel kontrolliert, entfalten kann.
Dieses Prinzip, das sich in der Realität der neudemokratischen Revolution auch in anderen sozialistischen Revolutionen findet, argumentiert also, dass theoretisch jede geschichtliche Menschheitsetappe zum Sozialismus übergehen kann und widerspricht damit einem verbreiteten Prinzip, dass der Sozialismus nur aus einem voll entwickelten Kapitalismus erwachsen kann – insbesondere auch der Ansicht, dass sich der Sozialismus am ehesten dort entwickle, wo der Kapitalismus am entwickelsten sei.
»Die Menschen können, erst wenn sie sich von der sozialen Abhängigkeit, von den Fesseln der Natur, der überlebten Ideologie und Kultur befreit haben, die Souveränität vollständig durchsetzen. Der Kampf dafür ist auf allen Gebieten – bei der Umgestaltung der Gesellschaft und Natur sowie bei der Umformung der Menschen – konsequent zu führen.«11
Die Essenz der menschlichen Geschichte ist also der Kampf zur Befreiung von jeglichen Fesseln der eigenen Souveränität – die kommunistische Gesellschaft dahingehend die größtmögliche Verwirklichung der menschlichen Souveränität.
Der historische Charakter der Menschen ist in der Juche-Idee die schöpferische Bewegung der Volksmassen.
»Seit Beginn der Menschheitsgeschichte rangen die Volksmassen durch ihre schöpferische Arbeit um die Bezwingung der Natur, schufen sie für ihr Dasein und Gedeihen Reichtümer und erreichten durch ihre schöpferische Tätigkeit zur Überwindung des Veralteten soziale Fortschritte. Die Gesellschaft entwickelt sich durch das unermüdliche schöpferische Wirken der Volksmassen.«12
Mit „schöpferischer Arbeit“ ist nichts weiter gemeint als die zentrale Rolle der Arbeit im menschlichen Leben im Allgemeinen, wie dieser Umstand ohnehin seit frühesten Tagen einen prinzipiellen Platz in der marxistischen Weltanschauung einnimmt. In diesem Sinne ist der Befreiungskampf der Menschheit nichts weiter als der Befreiungskampf der menschlichen Arbeit, wo diese Befreiung durch die größtmögliche Realisierung der eigenen Souveränität erreicht wird. Gleichzeitig wird der passiven und mechanistischen Natur mancher Interpretationen des Marxismus der Boden entzogen, indem die schöpferische Bewegung der Volksmassen das Vehikel des historischen Wandels darstellt. Mit der schöpferischen Kraft der Volksmassen beginnt historischer Wandel und mit ihr endet er, während etwa die Entwicklung der Produktivkräfte eine Folge dieser schöpferischen Kraft sein muss. Obgleich eine Entwicklung der Produktivkräfte weiters auch eine weitere Entwicklung der schöpferischen Kraft der Volksmassen erleichtert, so ist die letztere ausschlaggebend.
Die treibende Kraft hinter der menschlichen Geschichte ist in der Juche-Idee das Selbstbewusstsein.
»Die Revolution wird durch den bewussten Kampf der Volksmassen vorangetrieben und zum Sieg geführt.«13
Anders als in der revisionistischen Auffassung der sozialistischen Transformation, in derer der Mensch jene gänzlich passiv und mechanistisch beschleunigen kann, indem er einzig und allein die Produktivkräfte entwickelt, muss zufolge der Juche-Idee das revolutionäre Subjekt, wenn es seiner Aufgabe als solcher wirklich gerecht werden soll, ein revolutionäres Selbstbewusstsein entwickeln. Dies geht insofern über bloßes Klassenbewusstsein hinaus, dass das revolutionäre Subjekt in sich die Überzeugung hegen muss, alle möglichen Probleme, die sich im Laufe des revolutionären Wandels ergeben, auch selbst lösen zu können. Zusätzlich zu bloßem Klassenbewusstsein benötigt das revolutionäre Subjekt bzw. der Revolutionär zusätzlich auch einen entsprechenden Willen und entsprechende Kraft.14 Kim Jong Il kontrastiert dieses notwendige Selbstbewusstsein in der „höchsten Etappe der revolutionären Bewegungen“ mit der Zwangsdisziplin und dem Kadavergehorsam, die im Kapitalismus herrschen und das in sozialistischen Gesellschaften zur Restauration des Kapitalismus führt.
Kim Jong Il stellt in seinem Werk „Über die Juche-Ideologie“ drei Grundprinzipien zur praktischen Anwendung im Sozialismus der Juche-Idee auf:
(a) Die eigenständige Position ist zu wahren;
(b) Die Anwendung schöpferischer Methoden;
(c) Die Hauptsache ist, der Ideologie die größte Bedeutung zuzumessen.
Zum Einnehmen einer eigenständigen Position in der politischen Praxis eines sozialistischen Staates müssen vier Grundvoraussetzungen vorhanden sein:
(a) Eigenständigkeit in der Ideologie (사상에서 주체, Sasang-eseo Juche);
(b) Souveränität in der Politik (정치에서 자주, Jeongchi-eseo Jaju);
(c) Selbstständigkeit in der Wirtschaft (경제에서 자립, Gyeongje-eseo Jarip);
(d) Selbstverteidigung zum Schutze des Landes (국방에서 자위, Gugbang-eseo Jawi).
Eine Juche-Haltung kann laut Kim Jong Il nur dort bewahrt werden, wo die eigenständige Position in allen gesellschaftlichen Bereichen bewahrt wird, insbesondere in der Politik, der Wirtschaft und der nationalen Verteidigung. Um eine solche eigenständige Position einzunehmen, ist es notwendig, die eigene Rolle als revolutionäres Subjekt zu erkennen.
»In der Ideologie die Eigenständigkeit verwirklichen bedeutet, dass man sich dessen bewusst ist, Herr der Revolution und des Aufbaus zu sein, dass man in der ganzen Denkweise und in der Praxis die Revolution des eigenen Landes in den Mittelpunkt rückt und den Standpunkt vertritt, bei der Lösung aller Fragen auf das eigene Wissen und die eigene Kraft zu vertrauen. (…) Wer mit den Dingen seines Landes voll vertraut ist, vermag aus eigener Entscheidung und entsprechend der Realität an die Lösung aller Fragen in der Revolution und beim Aufbau heranzugehen, Revolution und Aufbau gemäß den Bestrebungen und Bedürfnissen des eigenen Volkes zu meistern, große Liebe zum Vaterland und Volk entgegenzubringen sowie patriotische Selbstaufopferung und hohen revolutionären Elan zu zeigen.«15
Diese Ansicht betont also das aus eigener Kraft geschöpfte, kreative Meistern der sozialistischen Revolution im eigenen Land auf Basis der analytischen Einheit „Nation“. Es ist dies, im Anschluss an Stalins These des „Sozialismus in einem Land“, die grundlegende Realität einer jeden sozialhistorischen Bewegung. Durch die Wichtigkeit dieser These ergibt sich für die Juche-Idee die Notwendigkeit, Revolutionen weder zu „importieren“, noch zu „exportieren“, da dies das Einnehmen einer eigenständigen Position verhindert, was die eigene sozialistische Revolution und damit auch die sozialistische Weltrevolution sabotiert.
Dies widerspricht, entgegen unverständlicher Einwände von Kritikern, ausdrücklich nicht der grundsätzlich internationalistischen Ausrichtung des koreanischen Sozialismus bzw. der gelebten internationalen Solidarität, sondern es ermöglicht diese dahingehend erst überhaupt. Die koreanische Revolution war lange Zeit großmachtchauvinistischen Tendenzen seiner Nachbarn ausgesetzt, sowohl von chinesischer als auch sowjetischer Seite, geschweige denn der eigentlichen imperialistischen Großmächte. Zuerst die Selbstständigkeit zu betonen, bedeutet, die eigene Revolution vor der Fremdherrschaft zu bewahren.
Die Souveränität in der Politik überschneidet sich besonders mit der Eigenständigkeit in der Ideologie. Die Volksmassen im Sozialismus können ihrer Rolle als Herren der Revolution nur dann gerecht werden, wenn sich ihr Instrument der Macht auch gänzlich ihrem Willen allein anpasst. Die Souveränität des Staates ist nur dann gewährleistet, wenn der Staat seine volle Autonomie und die nationale Gleichberechtigung in der Außenpolitik verwirklichen kann. Diese Ansicht stellt sich etwa den politischen Abhängigkeitsbeziehungen in den RGW-Staaten (dem „Ostblock“) entgegen.
Gleichzeitig ist auch die wirtschaftliche Selbstständigkeit von zentraler Bedeutung, denn ohne der Eigenständigkeit dieser „materielle[n] Basis des gesellschaftlichen Lebens“16 kann keine nationale Unabhängigkeit erreicht werden.
»Die Schaffung solch einer Wirtschaft bedeutet, eine von anderen unabhängige und auf eigenen Beinen voranschreitende Wirtschaft aufzubauen, die dem eigenen Volk dient und sich auf der Grundlage der einheimischen Ressourcen und der Kraft des eigenen Volkes entwickelt. Das ist unerlässlich, um die Naturschätze des Landes rationell und komplex zu nutzen, die Produktivkräfte rasch zu entwickeln, den Lebensstandard des Volkes ständig zu verbessern, eine feste materiell-technische Basis des Sozialismus zu schaffen sowie die politische, ökonomische und militärische Macht zu stärken, überdies in den internationalen Beziehungen politisch und wirtschaftlich die volle Souveränität und Gleichberechtigung auszuüben, zur Konsolidierung der antiimperialistischen, nach Souveränität strebenden sowie der sozialistischen Kräfte in der Welt beizutragen.«17
Diese Argumentation richtet sich insbesondere gegen die revisionistische Praxis, vorranging Leichtindustrie zu entwickeln, um rasch den Lebensstandard zu erhöhen. Während die Entwicklung der Leichtindustrie, also von Konsumgütern, selbstverständlich Teil der wirtschaftlichen Entwicklung im Sozialismus ist, benötigt eine vorrangige Entwicklung dieser entsprechende Abstriche in anderen Bereichen, zumeist der Schwerindustrie oder der Landwirtschaft, deren Erzeugnisse somit importiert werden müssen.
Daraus folgert sich also, vorranging Schwerindustrie zu entwickeln – nachhaltig zu „industrialisieren“ – um auf dieser Basis die Leichtindustrie und Landwirtschaft zu entwickeln.
Die unabhängige Selbstverteidigung des Landes ist der vierte und letzte Garant der eigenständigen Position eines sozialistischen Staates, besonders in Zeiten des Imperialismus. Die Verteidigung der sozialistischen Errungenschaften gegen die hegemonialen Bestrebungen der imperialistischen Staaten, aber letztlich auch zum allgemeinen Schutz der territorialen Integrität gegenüber jedermann, der sie bedroht, ist eine Selbstverständlichkeit, ohne die der Staat gegen äußere und innere Feinde nicht verteidigt werden kann.18
Um die Juche-Idee tatsächlich im gesellschaftlichen Leben verwirklichen zu können, erarbeitete Kim Jong Il zwei Regeln der politischen Praxis für Kader; einerseits sich in seiner politischen Praxis „auf die Volksmassen zu stützen“ – die Massenlinie (군중로선, Gunjungroseon) – andererseits die eigene Arbeit immer direkt an den realen Gegebenheiten zu messen – der Antidogmatismus bzw. die „Realitätsbezogenheit“ (실정성, Siljeongseong).
Da die Volksmassen die treibende Kraft hinter der revolutionären Umgestaltung sind, sie aber, wie wir spätestens seit Lenin wissen, durch ihre Partei und anderen gesellschaftlichen Organisationen angeleitet werden, muss es Garantien der Umsetzung des Willens der Volksmassen geben. In der Juche-Idee ist die Massenlinie der direkte Garant einer dem Willen der Volksmassen entsprechenden politischen Realität.
Konzise beschreibt Kim Jong Il die wichtigste Anforderung der Massenlinie, nämlich, die „Anliegen und Bedürfnisse der Volksmassen zu erfassen und zu verallgemeinern,“ da es ja die Volksmassen sind, die die Realität „sehr gut kennen“ und „reiche Erfahrungen haben“.19
Selbstverständlich handelt es sich hier aber nicht um eine komplizierter dargestellte Variante einer „direkten Demokratie“, sondern um eine Art „Systematisierungsmechanismus“. Die politischen Kader, die gemäß demokratisch-zentralistischer Verfahren ihre Position erlangt haben, müssen zur Erfüllung ihres Auftrages als Kader die unmittelbaren, unsortierten, chaotischen Interessen, Bedürfnisse und Meinungen der Volksmassen mit den Prinzipien der Partei und den realen Gegebenheiten in ein einheitliches Ganzes synthetisieren. Es müssen also jene Aspekte, die nicht mit den Prinzipien der Partei oder den realen Gegebenheiten im Einklang stehen, aussortiert oder so verändert werden, dass sie nunmehr harmonieren.
Massenlinie und Realitätsbezogenheit stehen in enger Verbindung zueinander, doch der Kern der Realitätsbezogenheit ist sein antidogmatischer Charakter. Besonders im 20. Jahrhundert wurden von vielen Bewegungen die revolutionären Erkenntnisse anderer Bewegungen meist unkritisch als Dogmen übernommen. Diese Erkenntnisse, die sich sicherlich in einem Teil dieser Erde anwenden ließen, werden aber mit großer Wahrscheinlichkeit andernorts nicht zu Erfolgen führen. Mithilfe der eigenen Kreativität eigene politische Erkenntnisse zu sammeln und zu systematisieren – realitätsbezogen zu handeln – ist also eine politische Notwendigkeit jeder revolutionären Bewegung. Diese Ansicht entspricht den klassischen Anforderungen der Praxisbezogenheit, der Wissenschaftlichkeit des Sozialismus.20
Dieser Punkt wird von Kim Jong Il in zwei hauptsächliche Aspekte geteilt: „Vorrang gebührt der ideologischen Umformung“ und „Die politische Arbeit hat Vorrang.“ Es handelt sich hier um eine Reaktion auf die revisionistische Ansicht, dass der wirtschaftlichen Entwicklung Vorrang gebührt und entspricht somit der bereits vorher dargestellten Problematik des Revisionismus, die ihre Protagonisten in der poststalinschen Sowjetunion rund um Chruschtschow, Breschnew et al. sowie in der postmaoistischen Volksrepublik China um Deng, Liu et al. findet.
Kim Il Sung und Kim Jong Il betonten besonders die ideologische Umformung des Menschen, seine Verwandlung in einen kommunistischen Menschen.
»Das Bewusstsein der Menschen wird von ihrer sozialökonomischen Lage und ihren materiellen Lebensbedingungen beeinflusst, das heißt jedoch nicht, dass es sich deshalb von selbst verändert, weil sich ihre sozialökonomische Lage und die materiellen Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens wandeln. Die Überbleibsel der alten Ideologie sind überaus hartnäckig. Die ideologische Erziehung ist also eine komplizierte und langwierige Arbeit, die nur durch energischen Kampf bewältigt werden kann. Sie ist auch eine tief greifende Revolution, ein Kampf für die endgültige Ausmerzung der Rudimente der überlebten Gesellschaft im Bewusstsein der Menschen und für die Ausrüstung der Werktätigen mit der fortschrittlichen Ideologie der Arbeiterklasse, mit der kommunistischen Ideologie. Sie bildet die Hauptform des Klassenkampfes in der sozialistischen Gesellschaft, in der die Ausbeuterklassen liquidiert worden sind.«21
Die Volksmassen im Sozialismus benötigen ihre Partei und die Leitlinien ihres Programms zur Verwirklichung der ideologischen Erziehung. Die Kader müssen die Volksmassen mit den Parteiprinzipien vertraut machen, sie mit ihnen bewaffnen und ihren revolutionären Eifer erhöhen. Diese Aktivität erhält die oberste Priorität bei der sozialistischen Umgestaltung – sie steht also vor wirtschaftlichen Aspekten. Gleichzeitig wirkt dies der Bürokratisierung und Elitisierung der Partei selbst entgegen.
Im Jahre 1960 besuchte Kim Il Sung die Gemeinde Cheongsan im Bezirk Süd-Pyeongan, um sich persönlich ein Bild der Lage vor Ort zu machen. Er kam dort früh morgens an und suchte zuallererst die Wohnhäuser der Mitglieder der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft auf, wo er sogleich auf manche Mitglieder stieß. Die von diesem Besuch nichts wissenden Bewohner zeigten sich selbstverständlich überrascht, vom Präsidenten besucht zu werden. Nachdem Kim Il Sung die Bewohner beruhigt hatte, informierte er sich eingehend über die Zustände in ihrem Haushalt – wie groß war die Familie, wie viel Getreide war an sie verteilt worden, mangele es an Getreide und war Kimchi eingemacht worden. Nach diesem Treffen besuchte er sodann die Häuser der Bauern, wo er sich ähnlich informierte, um danach mit den örtlichen Parteikadern zusammenzutreffen und die drängenden Probleme des Ortes zu besprechen.
Diese Arbeitsmethode wurde danach als Beispiel für die Kaderarbeit im ganzen Land etabliert, wodurch sie den Namen Cheongsanri-Methode erhielt.
Die koreanischen Betriebsmodelle verliefen im Laufe der Geschichte der Demokratischen Volksrepublik Korea in drei Etappen. Die erste war die vor-sozialistische Etappe, in der Industriebetriebe weiterhin frei und autonom waren. In der zweiten standen den nunmehr planmäßig zunehmend verstaatlichten Industriebetrieben Betriebskomitees vor, die von den örtlichen Volkskomitees gewählt wurden, die man später mit dem sowjetischen Modell der Ein-Mann-Verwaltung ersetzte und in der dritten Etappe wurde das Taeaner Betriebsmodell etabliert, das die vorhergehenden ersetzte. Im Taeaner Betriebsmodell besitzt die oberste Entscheidungsmacht eines Industriebetriebs das Betriebsparteikomitee, das aus etwa 25 bis 35 Mitgliedern besteht und sich aus gewählten Betriebsleitern, Arbeitern, Ingenieuren und Führungskräften der betrieblichen gesellschaftlichen Organisationen zusammensetzt. Ein kleineres, aus etwa 6-10 Mitgliedern bestehendes Exekutivkomitee entscheidet wiederum über die täglich anfallenden Aufgaben der Betriebsleitung.
Das Taeaner Betriebsmodell dient der verlässlichen Ausbalancierung der wirtschaftlichen Notwendigkeiten einerseits und der Sicherung der proletarischen Hegemonie andererseits, wobei Letzteres im Zweifelsfall bestimmend ist.
Die drei Revolutionen wurden von Kim Il Sung als notwendige Vehikel der sozialistischen Umgestaltung beschrieben, die der nachhaltigen Bekämpfung reaktionärer Tendenzen im Sozialismus und damit der Verhinderung einer Restauration des Kapitalismus dienen sollen. Sie wurden am fünften Parteitag der Partei der Arbeit Koreas im November 1970 offiziell ausgerufen. Die drei Revolutionen bestehen aus der ideologischen Revolution, die den Menschen revolutioniert, der kulturellen Revolution, die die Gesellschaft revolutioniert und der technologischen Revolution, die die Natur revolutioniert.
Im Rahmen der ersten Kampagnen dieser drei Revolutionen kritisierten etwa viele Arbeiter und junge Kader aller Betriebe und Institutionen ältere, konservativere Leiter und Kader. Kim Jong Il trieb später die Drei-Revolutions-Bewegung weiter voran, deren Kampagnen auch heute noch weiterhin stattfinden.
Kim Il Sung argumentierte, dass diese drei Revolutionen bis zur Realisierung einer kommunistischen Gesellschaft anhalten müssen. In der ideologischen Revolution muss der Mensch durch die gesellschaftliche Erziehung zu einem kommunistischen Menschen erzogen werden. Alle Arbeiter müssen die notwendigen Kenntnisse erlangen, um die Produktion selbst in die Hand zu nehmen und einen sozialistischen Lebens- und Produktionsstil zu etablieren; in der technologischen Revolution muss der Widerspruch zwischen schwerer und leichter, mentaler und physischer, landwirtschaftlicher und industrieller Arbeit gelöst sowie die Frau von der Hausarbeit befreit werden. In der kulturellen Revolution müssen die künstlerischen Produkte der Gesellschaft von reaktionären und überholten Ansichten befreit werden.
1 Kim Il Sung. Werke. Band 9. Pyongyang: Verlag für fremdsprachige Literatur. S. 456f.
2 Kim Jong Il tat dies in „Über die Juche-Ideologie“.
3 Kim Jong Il. Über die Juche-Ideologie. Pyongyang: Verlag für fremdsprachige Literatur. 1982. S. 77.
4 Ibid.
5 Ibid.
6 Kim Jong Il. On some Problems of Education in the Juche Idea. (Über einige Probleme der Erziehung in der Juche-ideologie.) Pyongyang: Verlag für fremdsprachige Literatur. 1995. S. 4.
7 Kim Jong Il (1982), S. 10.
8 Ibid.
9 Ibid, S. 16.
10 Ibid, S. 20.
11 Ibid, S. 21.
12 Ibid, S. 28.
13 Ibid, S. 32.
14 Ibid, S. 35.
15 Ibid, S. 39-40.
16 Ibid, S. 47.
17 Ibid, S. 47f.
18 Ibid, S. 52f.
19 Ibid, S. 58.
20 Geschichte der kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki). Moskau: Verlag für fremdsprachige Literatur. 1945. S. 142ff.
21 Kim Jong Il (1982), S. 65f.
22 Ob die Cheongsanri-Methode, das Taeaner Betriebsmodell und die drei Revolutionen zur Juche-Idee selbst oder eher zum Kimilsungismus-Kimjongilismus gezählt werden sollten, ist fraglich. Wir haben uns für die erstere Variante entschieden, da wir finden, dass insbesondere die drei Revolutionen bei einem Studium der Juche-Idee Priorität erhalten sollten.